ENSY AG
Aus Überfluss wird Energie
Damit einem Dorf nie das Wasser ausgeht, muss eine Quellwasserversorgung mehr Zufluss haben, als im Netz verbraucht wird. Wie sich aus diesem Überlauf mit minimalem Aufwand Strom produzieren lässt, zeigt eine Firma aus dem Naturpark Beverin seit über zehn Jahren.
Simon Gloor ist zufrieden. Alles funktioniert, ganz wie erwartet. Draussen, in der Sufner Furra, herrschen Minustemperaturen an diesem Wintermorgen, doch hier, drei Meter tief in der Erde, sorgt der leise brummende Generator im schmalen Schacht für angenehme 15 Grad. Die Maschine läuft wie am Schnürchen, angetrieben von der Peltonturbine, die sich im Chromstahlgehäuse gleich unter dem Stromerzeuger hochtourig dreht. Ein kleines Fenster in der Hülle gibt waschmaschinenartig den Blick frei auf das Wasser, das aus der seitlichen Düse mit hohem Druck auf die Schaufeln des Laufrads spritzt. Es ist Wasser aus der Trinkwasserversorgung von Sufers. Jenes Wasser, dass die angeschlossenen Verbraucherinnenund Verbraucher aktuell nicht benötigen. Sprich: der Überlauf. Denn auch aus ihm lässt sich noch Energie gewinnen, erstaunlich viel sogar. Dank dem wohl innovativsten Produkt aus dem Naturpark Beverin: der Wassernetz-Turbine der einheimischen Firma Ensy AG.
Hilfreiche Einspeisevergütung
Zwischen Quelle und Wasserhahn steckt einiges an nutzbarer Energie. Trinkwasser-Kraftwerke verwerten dieses Potenzial meist über eine Druckleitung vom Ursprung des Wassers bis zum Reservoir. So ein Projekt plante die Gemeinde Sufers auch während der zehnjährigen Amtszeit von Simon Gloors Vater Rolf als Gemeindepräsident. «Endlich war der Strompreis dank der kostendeckenden Einspeisevergütung KEV nicht mehr bei nur fünf Rappen pro Kilowattstunde», erinnert sich Rolf Gloor zurück an die Zeit vor bald 20 Jahren. Also reichte man das Sufner Trinkwasser-Kraftwerkprojekt für die KEV ein. Doch dabei allein sollte es nicht bleiben.
Rolf Gloor ist ein Fachmann, wenn es um Energiefragen geht. Vor 30 Jahren aus Goldach am Bodensee in die Rheinwaldner Heimat seiner Frau Elsbeth umgezogen, ist der Elektroingenieur heute als Energieeffizienzberater für Industriefirmen tätig, ausserdem ist er Dozent an der Ostschweizer Fachhochschule in St. Gallen, und er betreibt die Beratungsseite energie.ch. «Durch systematisches Überlegen kam mir die Idee, auch den Überlauf einer Wasserversorgung für die Energieerzeugung zu nutzen», erzählt Rolf Gloor in seinem Büro an der Oberdorfstrasse in Sufers. Die Idee wurde zum Thema einer von ihm betreuten Diplomarbeit zweier Studenten: «Ihre Aufgabe war, ein kompaktes, günstiges Kleinstkraftwerk mit Funksteuerung zu entwickeln.» Noch war damit die spätere Wassernetz-Turbine nicht geboren, aber eine Basis war gelegt. Rolf Gloor dachte weiter, konzipierte weiter, tüftelte, besorgte Bauteile. 2010 gründete er die Firma Ensy AG, 2011 stieg Sohn Simon als Techniker mit ein. In Andeer entstand eine Pilotanlage, mit Erfolg, und Sufers entschied sich dazu, neben dem «konventionellen» Trinkwasser-Kleinkraftwerk ein Ensy-Projekt für die KEV einzureichen.
Ohne Schnickschnack
Weshalb ein Kraftwerk mit Funksteuerung? Der Grund liegt auf der Hand: Der Überlauf einer Wasserversorgung fällt oben beim Reservoir an, die Stromerzeugung mit diesem «Überfluss» muss aber aus Gründen des Gefälles respektive des Drucks im System an einer tief liegenden Stelle im Netz erfolgen. Zwischen diesen beiden Punkten braucht es eine regelnde Verbindung, damit die Wasserzufuhr unten im Turbinenschacht korrekt und «live» entsprechend dem Pegelstand im Reservoir gesteuert werden kann. Gibt es oben mehr Wasser, als der Speicher fassen kann, wird dieselbe Menge virtuell nach unten verschoben, um sie dort zur Stromerzeugung zu nutzen. Die Düse an der Peltonturbine wird dabei von der Funksteuerung immer nur so weit geöffnet, dass oben kein Überlauf entsteht. Das überschüssige Wasser fliesst stattdessen nach der Turbinierung in das Gewässer, neben dem der Turbinenschacht positioniert wurde. Was hinzukommt: Die Steuerung der Anlage per Funk macht gleichzeitig die teure Verlegung einer Kabelverbindung überflüssig. Das passt zur Ensy-Philosophie: «Wir wollen einfach, zuverlässig und günstig sein», sagt Simon Gloor, «wir lassen allen Schnickschnack weg und machen mit dem Vorhandenen das Optimale.» Der Unterhalt beschränkt sich auf das jährliche Schmieren der Generatorlager, die Lebensdauer der Anlagen wird auf mindestens 40 Jahre geschätzt. «Eingriffe in natürliche Wasserläufe sind bei unserem System ebenfalls nicht nötig», ergänzt Rolf Gloor. «Wir plagen keine Bächli, und es braucht keine Konzession.»
Zwei Anlagen in Arbeit
Insgesamt zehn Kleinstkraftwerke hat die Ensy AG inzwischen realisiert, sie stehen nicht nur in Sufers und Andeer, es gibt sie auch ausserhalb des Naturparks Beverin, in Landarenca oder Grüsch zum Beispiel, in Mulegns, Müstair, Rhäzüns und San Vittore. Je nach Topologie und Wasserdargebot reicht ihr Stromertrag aus, um 10 bis 25 Haushalte jährlich mit Energie zu versorgen. Wollen Rolf und Simon Gloor wissen, wie viel die Anlagen aktuell produzieren, reicht ihnen – und allen anderen – ein Blick auf die Website ensyag.ch: Dort sind stets in Echtzeit Leistung, Druck und Drehzahl der Kleinstkraftwerke ersichtlich, und auch die produzierte Energiemenge ist verzeichnet, alles in allem sind es bis anhin fast 3,5 Millionen Kilowattstunden. Zwei neue Anlagen sind notabene gegenwärtig in Arbeit, die elfte wird bereits im Januar ausgeliefert, sie wird in Sedrun stehen, die zwölfte dann wieder im Naturpark, in Thalkirch.
Simon Gloor zeigt die Werkstatt im Erdgeschoss des kleinen Ensy-Firmenhauses an der Oberdorfstrasse. «Etwas chaotisch, aber für mich stimmt es so», sagt er schmunzelnd. Hier testet der gelernte Bauzeichner momentan gerade den Prototyp einer Qualitätssicherungsanlage für Wasserversorgungen via Funk, hier montiert er aber auch die Kleinstkraftwerke, bevor sie eingebaut werden. Sie bestehen aus Standardkomponenten, die von Ensy gezeichnet und von grösstenteils in Graubünden ansässigen Zulieferbetrieben angefertigt werden. «Wir sind meines Wissens das einzige Unternehmen im Kanton, das selber Kraftwerke baut», meint Vater Rolf Gloor. «Und wir besitzen die einzige für den Betrieb in Trinkwassersystemen zertifizierte Turbine.» Nicht zuletzt trägt Ensy das Gütesiegel «Empfohlen vom Naturpark Beverin».
Nachholbedarf im Marketing
Wenn aber das Produkt so viele Vorteile hat: Weshalb ist es dann noch nicht durchgestartet? Immerhin würde sich laut den Schätzungen der Gloors jede zweite Wasserversorgung im Alpenraum für den Einbau einer Ensy-Turbine eignen. «In Graubünden wären über 100 Anlagen denkbar, in den Alpen insgesamt über 1000», meint Simon Gloor. Und es wäre das erklärte Ziel der Firma, etwa zehn Stück pro Jahr zu realisieren – davon ist man zehn Jahre nach dem Start noch weit entfernt. «Das Problem ist, dass es für solche Kleinst-Trinkwasserkraftwerke seit 2017 de facto keine KEV mehr gibt», erklärt Rolf Gloor. «Das hat uns gebremst.» Bei Produktionskosten von 8 bis 16 Rappen pro Kilowattstunde sei man ohne Einspeisevergütung nicht mehr rentabel. Trotzdem gebe es noch Gemeinden, die sich dafür entscheiden würden, den Überlauf zu turbinieren – aus ideellen Gründen, oder dann für die Eigennutzung der Energie. Muss man weniger davon teuer zukaufen, macht sich das Kleinstkraftwerk doch noch bezahlt. «Aber irgendwie schaffen wir es nicht, die Vorteile unseres Systems zu vermitteln und die Leute dafür zu begeistern», gibt Rolf Gloor zu. «Beim Marketing hapert es noch.» Doch von einer Sache ist er überzeugt: «Damit die Energiewende Erfolg hat, braucht es ein Zusammenspiel der verschiedenen Energieträger. Sie ist ein riesiges Mosaik. Und von diesem Mosaik sind auch wir ein Teil.»
Autor: Jano Felice Pajarola
Fotos © Jano Felice Pajarola / Ensy AG
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